The legendary arthur

Jürgen Raap ©Kunstforum Online
Nomaden der Neuzeit
Mobilität als Lebensentwurf und als Schicksal

Der Hausierer zieht von Haus zu Haus und bietet an der Schwelle seine
Waren und Dienstleistungen an: Kesselflicker, Scherenschleifer und
Kurzwarenhändler übten ihr Gewerbe früher vorzugsweise ambulant
aus. Doch nicht immer waren und sind sie wohl gelitten: Schilder mit
dem Text "Betteln und Hausieren verboten" prangen auch in unseren
Tagen an den Haustüren. An der Einfahrt zu französischen
Campingplätzen verwehren Schilder "Interdit aux Forains et Nomades"
den Landfahrern die Nutzung eines Areals, das ausschließlich für die
Wohnmobil-Urlauber reserviert ist - für Sesshafte, die lediglich in den
Ferien "On the Road" (Jack Kerouac) sind, jedoch nicht als "The Tramp"
(Charlie Chaplin), sondern möglichst bequem mit Wohnanhänger.

Campingbewegung
Für die meisten Caravan-Urlauber ist diese Art, Ferien zu machen,
individueller als ein Aufenthalt in den Bettenburgen des
Massentourismus, und wegen der Möglichkeit zur Selbstverpflegung
auch weitaus billiger. Die Camping-Bewegung setzte in den
Wirtschaftswunderjahren nach 1950 ein, zeitgleich mit dem
Automobilismus der Volkswagen-Generation. Damals war als
Unterkunft noch das Zelt vorherrschend, und mit einer Sehnsucht nach
dem "Kontakt zur Natur" und nach der Einfachheit des Daseins
verhielten sich diese Zelter mental nicht viel anders als um 1900 die
"Wandervögel" mit ihrer Lagerfeuerromantik.
"Urlaub als Flucht vor dem Alltag (Franz Wassermann): Sinnbild eines
solchen Urlaubs ist heutzutage das Wohnmobil. Andere Fluchtgründe
haben Asylsuchende, und wo sie in Deutschland oder Österreich von
den Behörden abgelehnt werden, ist oft das "Kirchenasyl" die einzige
Möglichkeit eines Schutzraumes, in welchem man vor dem Zugriff der
Staatsgewalt sicher ist. Der österreichische Künstler Franz Wassermann
hat sogar ein Wohnmobil von einem Theologen weihen lassen. Die
mobile Herberge bekommt dadurch "die Funktion eines Kirchenraumes.
Das geweihte Wohnmobil wird zum Mahnmal". Mit diesem Wohnmobil
fuhr Wassermann im Winter 2001/2002 von Italien nach Deutschland,
feierte unterwegs Messen mit Flüchtlingen. Diese Aktion ist Teil von
Wassermanns Projekt "Schubhaft", mit der er gegen die österreichische
Flüchtlings- und Abschiebepolitik protestiert.
Wassermann besucht Flüchtlingslager und Gefängnisse, in denen
Abschiebehäftlinge einsitzen. Dort tauscht er mit ihnen neue Kleider
gegen ihre bisherigen persönlichen Kleidungsstücke, in denen sich
dann der Künstler mit einer Polaroidkamera fotografiert. Die Fotos
kombiniert Wassermann dann mit Zitaten aus den Briefen der Häftlinge,
in denen sie ihre Fluchtgründe erläutern.

Nomaden und Metropolen
Der zivilisatorische Unterschied zwischen Nomadentum und
Sesshaftigkeit ist laut Vilém Flusser ökologisch begründet: "Vor etwa
zehntausend Jahren bricht eine ökologische Katastrophe herein: Es
wird täglich wärmer. Der Wald invadiert in die Steppe, er vereitelt alles
vernünftige Jagen. Der Wald, dieser Todfeind des Menschen (wie alle
Mythen, nicht aber die Grünen wissen), zwingt die Nomaden, Gras statt
Fleisch zu essen, dieses Gras zu pflanzen, zu ernten und zu kochen,
kurz: seßhaft zu werden." 

Typisch für die nomadischen Hirtenkulturen ist eine weiträumige
Wanderbewegung über Weideflächen von Wasserloch zu Wasserloch. Im
Sommer, wenn in den Tälern die Flüsse und Bäche ausgetrocknet sind,
treibt man die Herde in die Höhenlagen der Berge (in den Alpenländern
ist heute noch der "Almauftrieb" üblich), während man das Winterlager
indessen in der wärmeren Tallage aufschlägt. Dezentrale Mobilität und
mobiles Kapital (Viehherde) sind Charakteristika dieser Hirtenvölker,
deren politische Organisation immer nicht-staatlich war und bei denen
ein unmittelbares Stammesrecht galt.Die Einzäunung der Weiden und das immobile Besitzdenken (Privateigentum an Grund und Boden) bei den seßhaften
Bauernkulturen führten sozialgeschichtlich schon sehr früh zu Konflikten zwischen Hirtennomaden und Ackerbürgern. Das setzt sich
bis heute fort in der sozialen Geringschätzung, gar Diskriminierung der
"Nichtsesshaften" - der "Obdachlose" fällt im wahrsten Wortsinne aus
dem sozialen und kulturellen Raster der bürgerlich-sesshaften
Ordnung. Die Konsequenz, mit der die Sesshaftigkeit sich als zivilisatorisches
Existenzmodell durchsetzte, ist nicht so sehr durch die bäuerliche
Bindung an die Scholle zu erklären (wenngleich die Nazis dies mit ihrer
"Blut und Boden"-Ideologie versucht haben), sondern durch den
Ausbau von Dörfern zu befestigten Städten und Stadtgründungen
(Metropolisierung). Die Stadt war von Anfang an nicht nur eine
militärisch gesicherte Ansammlung von Häusern, sondern eine
Organisationsform, bei der die wirtschaftliche Kontrolle eines
Absatzmarktes und die Kontrolle eines politischen Terrains
zusammenfielen.
Dem nomadischen Umherstreifen stand nun eine zentralistische
Staats- und Weltauffassung gegenüber. Mit der Erhebung von Zöllen
und Steuern wurde das Geschehen entlang der alten Handels- bzw.
Karawanenwege reguliert und monopolisiert: Im Mittelalter mussten
z.B. alle Rheinschiffe drei Tage lang vor der Stadt Köln ankern. Die
Kaufleute, die auf diesen Schiffen ihre Waren transportieren, waren
gezwungen, in dieser Zeit ihre Handelsgüter auf dem lokalen Markt
anzubieten. Erst dann durften sie weiter fahren.
Ein strenges städtisches Zunftwesen ließ die ambulante Ausübung
eines Gewerbes nur noch in marginalen Bereichen und auf Jahrmärkten
zu. Seit dem 16./17. Jahrhundert versuchte die Obrigkeit mehr und
mehr, mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen jegliche Form von
"Landstreichertum" zu unterbinden. Diese wirtschafts- und
sozialhistorischen Hintergründe erklären, weshalb der Hausierer in den
Stadtgesellschaften allenfalls geduldet, oft jedoch verjagt wurde: Seine
Mobilität widersetzt sich der Konzentration der Märkte mit ihrer
zentralistischen Organisation des Warenumschlags als einer
Voraussetzung, eine Gebietskörperschaft (Stadt, Land bzw. Staat) und
damit ein Macht- und Herrschaftszentrum sein zu können.
Historisch wurde also das nomadische Umherschweifen in nichtstaatlichen
Räumen durch eine Landnahme abgelöst, die einen
Kolonisierungsprozess auslöste. Zum Schema dieser Kolonisierung
gehören in der Anfangsphase die Bildung einer Wagenburg durch die
Siedler-Pioniere, dann die Errichtung von Heim, Herd und Hof,
abgesichert als "Wehrdorf" oder -in der Geschichte der
nordamerikanischen Pioniere - durch Militärpräsenz in befestigten
Forts.

Binnen weniger Generationen wachsen solche Siedlungsgebilde zu
Metropolen heran. Sobald diese jedoch unüberschaubar und
unkontrollierbar werden, findet eine rückbildende Zersplitterung in
sub-urbane Strukturen mit tribalistischen Organisationsformen statt.
"Fernab von Lagerfeuerromantik und Sentimentalismus" (Nora Theiss)
präsentierte sich im Dezember 2004 im Grazer "Kulturzentrum bei den
Minoriten" die Ausstellung "Wir sind wer wir sind -.htmlekte zum Leben
der Roma in der zeitgenössischen Kunst". Unter den 16 teilnehmenden
Künstlern war auch Chad Evans Wyatts, der mit Schwarz-Weiß-Porträts
von tschechischen Roma die "Klischees und Ressentiments" gegenüber
dem einstmals "fahrenden Volk" entlarvte: Alle Porträtierten sind als
Richter, Ärzte, Polizisten oder Museumsangestellte in der dortigen
Gesellschaft etabliert; die formale ethnische Zugehörigkeit sagt nichts
über die tatsächliche Lebensführung aus. Gleichwohl gibt es dort und
anderswo aber auch noch Fälle von Diskriminierung, " von sozialer
Schlechterstellung und Marginalisierung" eines Volkes, "das dem
Anders sein und Xenophobien ausgesetzt ist und war."